Kummt Senf druff

Der letzte Held von 2008

Der letzte Held von 2008


Im rise & fall & fight des Tobias Sippel liegt viel Symbolkraft. Für den gesamten 1. FC Kaiserslautern. DBB-Autor Marky hat eine fantastische Geschichte aufgeschrieben, in der es auch um die Zerissenheit der Fans geht.

Auf Deutschland höchstem, aber schon länger nicht mehr höchst-klassigem Fußballberg war zuletzt Erstaunliches zu beobachten. Als der Schiedsrichter die Partie gegen Ingolstadt abpfiff und damit den Schlusspunkt der 2014/2015er Spielzeit setzte, schüttelten sich die Anhänger des 1. FC Kaiserslautern kurz, um dann umso lauter zu singen und später gar zu feiern. Und das obwohl sich der große Traum vom Aufstieg (wieder) nicht erfüllte und die Tabelle auf den Anzeigentafeln in riesigen Lettern den FCK auf Platz vier führte.

Schon Ende Mai 2013 - Kaiserslautern hatte gerade das 1:2 im Relegations-Rückspiel kassiert - war auf den Rängen Außergewöhnliches passiert. 50.000 Lautrer hoben ihre Schals in die Höhe und schmetterten so laut ihr „Olé Rot-Weiß“, dass die TV-Kommentatoren Steffen Simon und Wolff Fuss inkl. der Fernseh-Kameras nicht genug davon bekommen konnten - und den Nichtabstieg der Hoffenheimer links liegen ließen. Die Schal-Parade mündete in der Folge sogar im Westkurven-Einhak-Klassiker „Lautern ist der geilste Club der Welt“. Jener wurde auch vor ein paar Wochen nach dem 1:1 gegen Bundesligaaufsteiger Ingolstadt angestimmt. Und wohl nur Franco Foda hätte diesen als Abfeiern der abgelaufen Saison gedeutet.

Was steckt hinter diesem Phänomen? Sind die teuflisch heißen Fans nun endgültig durchgeknallt - was nach den Erlebnissen der letzten Jahre gar nicht so verwunderlich wäre. Oder kommt hier ein kollektives Verdrängen von Realität, von Frust und Schmerz zum Ausdruck? In Ennio Morricones Western „Zwei glorreiche Halunken“ gibt es eine Szene in einem Gefangenlager. Dort muss die Lagerkapelle aufspielen und singen, um die brutale Folterung des ugly guy Tuco zu übertönen. Das Lied, das sie anstimmen, heißt „The Story of a Soldier“ und handelt vom traurigen Los des Soldaten.

Zur Klärung trägt ein FCK-Protagonist bei, der zum Ausklang der jüngsten Zweitliga-Saison seinen letzten großen Auftritt hatte. Und als willkommener Anlass für das Warmlaufen der Betze-Kapelle diente: Tobias Sippel.

„Ich hätte nicht gedacht, dass mich der Abschied von Sippel so mitnimmt, so berührt“, sagte ein Westkurven-Kollege zu mir, als die Ovationen für die Nr. 1 des Klubs immer intensiver wurden. Dazu liefen auf den Leinwänden Szene der langen FCK-Sippel-Ehe. Und sie trafen mitten ins große Lautrer Herz.

Denn die fantastische Geschichte des Bäckerlehrlings, der auszog, um ein Bundesligaprofi zu werden, begann in einer Spielzeit, die sich für jeden, der sie miterlebte, ins Gedächtnis gebrannt hat. Für immer. Alle Beteiligten hat sie auf emotionaler Ebene zusammengeschweißt. Untrennbar. Es ist eine Art der Verbundenheit entstanden, die vergleichbar ist mit jener, wenn Menschen zusammen ein Unglück durchleiden, die sich vorher fremd waren.

Schon die Geburtsstunde des Torwarts Tobias Sippel in der ersten Mannschaft hätte sinnbildlicher nicht sein können. Der damals 19-Jährige feierte sein Debüt im Oktober 2007 in Hoffenheim, als er für Florian Fromlowitz aufs Feld kam, der eine Kreuzbandverletzung erlitt. Es war ein gruseliger Abend auf dem von Dietmar Hopp hochgetunten Dorfsportplatz oben im Wald. Hinter dem zahlreich angereisten FCK-Anhang schlängelte sich eine schier endlose Karawane von Nobelkarossen ihren Weg zum VIP-Parkplatz. Für viele Supporter in Rot war es der erste Tritt in einen der großen Scheißhaufen des modernen Fußballs. Und Sippel hielt wie der Teufel - bekam nachher vom „kicker“ die Note 1.

Wenn man sich jetzt die Bilder von damals anguckt, sieht man, dass der Bad Dürkheimer, der schon 1998 auf dem Betzenberg aufschlug, noch ein Kind war - und fragt sich gleichzeitig, wie dieser junge Kerl der Belastung der Saison 2007/2008 standhielt. Er war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Er brachte das mit, was junge Helden in großen Geschichten charakterisiert: Unbekümmert, Mut, Loyalität.

Das tapfere Sippelein stand in der ersten Reihe, als der größte Shitstorm der Vereinsgeschichte auf die Mannschaft und die Verantwortlichen niederprasselte und er lenkte - als gestandene Mannsbilder im Stadion der Ohnmacht nahe waren und leise Gebete sprachen, einen schicksalsschweren, alles vernichtenden Ball an den Innenpfosten. Mit seinen Fingerspitzen. Sippel machte sich dabei länger, als er eigentlich ist. Viel länger.

Als der Patient Kaiserslautern, der keinen Puls mehr hatte, die Wiederauferstehung feierte, wurde Sippel zur Ikone - und zum Mädchenschwarm. Tanzend, das Trikot über dem nackten Oberkörper schwingend, brachte er die Herzen der jungen FCK-Anhängerinnen zum Beben. Bei den Herren der Schöpfung bzw. den erschöpften Herren punktete der Teufelskerl im Tor mit einem legendären Song über Mainz 05. Seinem Boss, Stefan Kuntz, bot er siegestrunken an, einen Vertrag auf Lebenszeit zu unterschreiben.

Trainer Milan Sasic machte Sippel in der folgenden Saison zur Nr. 1. Selbst als sich Sippel bei einem Heimspiel im Oktober 2008 beim Rückwärtslaufen die Elle brach, wollte er seinen Kasten nicht kampflos räumen. Wenn ich mich recht erinnere, fischte er sogar noch nach einer Flanke. Aber dann kam Luis Robles - und blieb für mehr als ein Dutzend Spiele im Tor. Doch Sippel kehrte noch stärker zurück. In der darauffolgenden Spielzeit stieg er mit dem FCK in die Bundesliga auf - und war der Primus unter den Zweitliga-Goalies. Es ging jetzt in jeder Hinsicht rasant nach oben. Sippel saß mit (s)einer pfälzischen Schönheitskönigin in „Flutlicht“ - von den Beckhams aus K-Town war die Rede. Doch wie den Helden in den alten Geschichten stand auch Sippel eine schwere Prüfung bevor. In der er alles verlor. Eine fiebrige Erkältung war der Auslöser, sie spülte Kevin Trapp ins Tor. Der in vieler Hinsicht ein Gegenteil von Sippel war: groß, ruhig und beherrscht. Sippel fand sich nach seiner Genesung auf der Bank wieder. Und Trainer Marco Kurz setzte auch in der folgenden FCK-Bundesliga-Saison auf Trapp. Um Sippel gab es Wechselgerüchte - wegen fehlender Perspektive. Der Druck entlud sich auf einer Sauf- und Pufftour, mit der es Sippel und Kollegen bis auf Seite 1 der „Bild“ schafften. Statt „Warum nur?“ hieß es in diesen Tagen für den Ex-Teenie-Star nur noch „Why not!“.

Als Tobi Sippel - nach einer Verletzung von Trapp - ins Tor zurückkehrte, war seine Verwandlung dramatisch (2012 vs. 2011). Infolge des Bundesligaabstiegs wechselte der große Rivale - und Sippel kämpfte sich Vertrauen und Respekt zurück. Doch sein großer Wunsch - Verantwortung zu übernehmen und seine Mannschaft als Kapitän in eine neue Saison zu führen - erfüllte sich bis zuletzt nicht.

Im rise & fall & fight des heute 27-Jährigen liegt viel Symbolkraft. Für den gesamten Verein. Sippel ist mit seinen 1,80 Meter eigentlich zu klein, um den Anforderungen eines Bundesligatorhüters zu entsprechen. Das verbindet ihn mit Kaiserslautern, das ebenfalls mickrig ist im Vergleich zu den meisten anderen Fußballstädten. Beide mussten sich immer mächtig strecken, um mithalten zu können. Beide fielen so oft hin und standen immer wieder auf.

Von all den Torhütern, die Gerry Ehrmanns Flugschule absolvierten, ist das „Sippelsche“ seinem Lehrmeister (Motto: „Wenn man einen Ball mal zwischen die Beine bekommt, geht es weiter“) am ähnlichsten. Wenn man Ehrmann ins Gesicht schaut, weiß man immer, wie es um den Verein bestellt ist. Bei Sippel - der einmal Torwarttrainer am Betze werden möchte - ist bzw. war das ähnlich. Neben ihrer Klasse ist es die Authentizität und auch die Fehlbarkeit, die sie besonders macht(e).

Nur häuften sich in jüngster Vergangenheit aus Sicht nicht weniger Fans die Missgeschicke, die „TS1“ unterliefen. Gleichzeitig soll er auch keine unhaltbaren Bälle mehr gehalten haben, so der Vorwurf. Schon vor der abgelaufenen Runde wurde der Wunsch nach einem Wechsel im Tor der Lautrer im Forum von „Der Betze brennt“ immer lauter, obgleich Sippel bei den konkreten Fan-Umfragen weiterhin vorne lag. Nach seiner roten Karte im ersten Spiel gegen 1860 meinten manche in der ersten Aufregung, dass man Sippel vielleicht nie wieder im FCK-Tor sehen werde. Doch er kehrte schnell zurück. Die Diskussionen und die Fehler ebbten trotzdem nicht ab. Nachdem Sippel im Heimspiel gegen Bochum eine Flanke slapstickartig unterlief und daraus ein Gegentor resultierte, lief das Fass endgültig über. Es kam auf den Rängen zu minutenlangem Grummeln gegen die Nr. 1. Wahrscheinlich der Anfang vom Ende der Ära Sippel. DBB schrieb nachher von einem Torwartproblem.

In dem Verhältnis zu Sippel zeigt(e) sich die Zerissenheit der Anhängerschaft. Die sich einerseits nichts sehnlicher wünscht, als wieder nach oben zu kommen. Die am liebsten alle aus ihrer Sicht untauglichen Spieler zum Teufel schicken würde, um das große Ziel zu erreichen. Um dann am Ende doch wieder zu erkennen, dass es in dem ein oder anderen Fall zu weit gegangen ist.

Mit Tobias Sippel verlässt der letzte Held von 2008 den Betze - mit diesem Satz könnte die Kolumne enden - aber trifft er wirklich zu?

Wenn man sich die eingangs beschriebenen Phänomene beim Relegations- und Ingolstadt-Spiel ins Gedächtnis ruft, dann versteht man, dass es einen Helden gibt, der schon 2008 da war. Und der immer noch da ist. Auf den es jetzt mehr denn je ankommt:

Wir.

Quelle: Der Betze brennt | Autor: Marky

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